Sonnenstrahlen sammeln an der Ostsee [Fischland-Darß-Zingst]

Frische Meeresluft atmen, den Kopf freipusten lassen, das Salz auf den Lippen schmecken und nach tagelangem Dauerregen endlich wieder Sonnenstrahlen sammeln. So lautet unser Plan für die nächsten zwei Tage. Voller Vorfreude packen wir warme Decken, Gummistiefel, Oliven und Wein in den kleinen blauen Bus und fahren von Berlin aus Richtung Norden, immer dem Meer entgegen.
Kurz hinter Rostock verlassen wir die Autobahn und tuckern auf einer idyllischen Landstraße weiter. Wir passieren kleine Dörfer mit romantischen Kirchen und Häusern in typisch nordischem Baustil.
Ich kann kaum glauben, dass wir uns noch in Deutschland befinden. Es sieht alles so holländisch aus! Hier und da steht eine alte Windmühle, immer wieder entdecken wir Storchennester. Die Dächer sind mit Stroh gedeckt und rechts und links von der Straße schlängelt sich ein Fahrradweg durch die flache Landschaft.
Weit und breit ist keine Erhebung zu sehen, von Bergen ganz zu schweigen. Man spürt, dass wir uns der Küste nähern. Immer wieder kurbele ich das Fenster runter, um zu überprüfen, ob man die frische Meeresluft schon riechen kann. Immerhin kommen wir an der Pension Seeluft, dem Ferienhaus Meerblick und dem Gasthaus Zur Robbe vorbei.
Nach 280 Kilometern erreichen wir das Ostseebad Prerow auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. Unser Endziel ist der Regenbogen Campingplatz am Meer. Die Saison hat noch nicht begonnen. Dementsprechend leer ist die Ferienanlage sowie der Stellplatz, auf dem wir unseren Bus parken.
Die Sonne strahlt aus Leibeskräften, als wolle sie mit unserer guten Laune mithalten. Am Himmel zeigt sich kein einziges Wölkchen. Da die Luft trotzdem noch recht kühl ist, packen wir uns warm ein und ziehen unsere Gummistiefel an. Von unserem Bus aus sind es nur wenige Meter über die Dünen bis zum Strand.
Südseefeeling an der Ostsee
Endlich wieder Meer! Ich kann meinen Augen kaum trauen, denn hinter den grasbewachsenen Hügeln erwartet uns strahlendweißer, feiner Sand und leuchtendes, klares Wasser. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich glatt behaupten, ich wäre in der Karibik gelandet. Dabei befinde ich mich an der Ostsee, am Nordstrand von Prerow, der als einer der schönsten Strände von Deutschland gilt. Zu Recht.
Ich lasse meinen Blick über die wunderschöne Landschaft schweifen, sauge die salzige Meeresluft ein, schließe für einen kurzen Moment die Augen und mit einem Mal stellt sich ein Gefühl der Leichtigkeit ein. Ich schalte den Kopf aus, spüre wie alle negativen Gedanken vom Wind davongetragen werden und lasse mich fallen. Ich bin angekommen im Hier und Jetzt.
Freudestrahlend spazieren wir den fünf Kilometer langen und bis zu 100 Meter breiten Strand entlang, der aus puderzuckerweichem Sand besteht und dessen Lichtreflektion beinahe in den Augen schmerzt. Das Meer ist ruhig wie ein See und die Wellen laufen sachte aus. Keine Menschenseele begegnet uns. Wir haben den traumhaften Nordstrand ganz für uns alleine.
Urwald an der Ostsee
Am Ende des Strandes beginnt der Darßer Urwald. Ein Rundwanderweg führt über Holzstege durch den hübschen Wald mit seinen uralten Kiefern und knorrigen Buchen, die vom Küstenwind geformt wurden. Über kleine Brücken spazieren wir durch sumpfiges Gebiet, das in der letzten Eiszeit entstand. Boddenlandschaft nennen sie das hier an der Ostsee.
Im Urwald ist es still. Und warm. Die Sonne brennt in frühlingshaftem Übermut und ich schwitze unter meinem dicken Zwiebelschichten-Outfit. Auch hier begegnen uns kaum Menschen und wir haben den friedvollen Wald fast für uns alleine.
Nach einer Weile gelangen wir an ein dunkelblaues Wasserloch, umgeben von alleinstehenden Bäumen und trockenem, gelben Gras, das dem einer afrikanischen Savanne gleicht. Halte mich für verrückt, aber es fehlen nur noch die Giraffen, die erhobenen Hauptes durch die Landschaft schreiten, um das Bild perfekt zu machen.
Vor meinem geistigen Auge sehe ich Elefanten am Wasserloch trinken und Löwen auf Beutejagd durchs Gestrüpp schleichen. Die Kulisse ist perfekt.
„Das ist ein Süßwassersee!“ Die Stimme meiner Freundin reißt mich aus meinen Tagträumen und innerhalb von Sekunden werde ich von Afrika zurück nach Deutschland gebeamt. Von der Aussichtsplattform aus entdecken wir dann zwar keine Zebras, aber dafür schneeweiße Schwäne. Auch gut.
Der wilde Weststrand
Am Ende des Darßer Urwaldes liegt der Weststrand. Schon vom Wald aus hören wir das laute Rauschen der Wellen und das Gekreische der Möwen. Der Weststrand ist eine raue Schönheit. Im Gegensatz zum Nordstrand ist er wild und ungezähmt. Die Wellen rauschen kräftig, der Wind bläst und auch der Sand ist grobkörniger und steiniger.
Die vom Wind geformten Bäume wachsen bis an die Dünen heran. Das gelbe Gras bildet den perfekten Kontrast zum Blau des Meeres und des Himmels.
Laut dem Fernsehsender Arte gehört der Weststrand von Prerow, zusammen mit Brasiliens Copacabana und dem Miami Beach, sogar zu den 20 schönsten Stränden der Welt.
Auf einem angespülten Treibholz rasten wir, mampfen unsere mitgebrachten Käsebrote und beobachten Menschen, die auf der Suche sind. Nicht nach innerem Frieden, sondern nach Bernstein, denn der wird hier angeblich von der Ostsee angeschwemmt.
Seeluft und lange Spaziergänge machen einen Bärenhunger. Wie gut, dass wenigstens eines der Restaurants auf dem Campingplatz geöffnet hat und uns einen riesigen Berg Spaghetti mit Chiliöl, Tomaten und sehr viel Knoblauch serviert.
Das Licht der Sonne wird langsam schwächer. Die Dämmerung setzt ein. Ein wenig windgeschützt sitzen wir in den Dünen und beobachten, wie die Sonne im Westen untergeht und den Nordstrand dabei in ein warmes Licht taucht.
Wir trinken Rotwein aus kleinen Plastikbechern, hängen unseren Gedanken nach und philosophieren über das Leben. Wir erinnern uns an vergangene Tage und rufen Erlebnisse wach, gute sowie schlechte, die uns für immer verbinden werden.
Als die Sonne völlig hinter den Bäumen verschwunden ist und wir vor Kälte zittern, stellen wir abschließend fest, wie schön Deutschland doch ist und (ganz wichtig), dass man viel öfter einfach mal ans Meer fahren sollte, um Sonnenstrahlen zu sammeln und Energie zu tanken.
Durchgefroren liegen wir um 21 Uhr in unserem Bettchen und kuscheln uns mit fünf Decken und einem Schafsfell ein. Zum Glück wärmt uns die Standheizung des Buses für eine Stunde von außen und der Rotwein von innen. Wie ein Baby schlafe ich ein und schlummere durch, bis dass der Wecker mich um fünf Uhr aus den Träumen reißt.
Sonnenaufgang an der Ostsee
Zähneputzen und ab in die Gummistiefel. In aller Herrgottsfrühe (Wer hat dieses blöde Wort erfunden?) wollen wir den Sonnenaufgang sehen. Ohne viele Worte marschieren wir am Strand entlang. Der eisige Wind pfeift uns um die Ohren. Wie schön, wenn der Geist zur Abwechslung mal nicht von einem halben Liter starkem Kaffee, sondern von einer frischen Meeresbrise erwacht. So sollte jeder Morgen beginnen!
Als wir die 395 Meter lange Seebrücke am Nordstrand erreichen, zeigt sich bereits ein schmaler orange-roter Lichtstreifen am Horizont. Wir stehen auf der Brücke. Mit beiden Händen halte ich mich an dem hölzernen Geländer fest und spüre meinen Herzschlag. Mein Blick schweift über die Wellen und bleibt am Horizont hängen. Dort, wo sich Meer und Himmel treffen, steigt plötzlich ein roter Feuerball aus dem Wasser empor.
Der Tag erwacht zu neuem Leben, Vogelschwärme gleiten durch das Sonnenlicht und das Meer glitzert, als wäre es mit feinem Goldstaub übersät. Die Wolken hinter uns färben sich lila. Dann geht alles ganz schnell.
Um dem eisigen Wind zu entfliehen, gehen wir durch den Wald zurück zu unserem Bus. Noch ist niemand wach. Lediglich ein paar Hasen hüpfen durch die Dünen und erschrecken, als sie zwei Menschen in Jogginghosen durch ihr Revier laufen sehen.

Nach einem spartanischen Frühstück, legen wir uns in die Dünen und sammeln Sonnenstrahlen, bis dass unsere Gesichter glühen. Am Nachmittag fahren wir zurück nach Berlin.