Kulturschock Indien: Vom goldenen Traum zur bitteren Wirklichkeit
Indien war mein großes Sehnsuchtsziel. Ein Land wie ein exotisches Märchen voller Magie und Wunder. In meiner Vorstellung gab es glitzernde Paläste, die über und über mit Gold verziert sind, heilige Kühe und quirlige Märkte, auf denen Gewürze in allen Farben leuchten. Vor meinem inneren Auge sah ich wunderschöne Frauen in bunten Saris und Männer mit kunstvoll gewickelten Turbanen und langen Bärten.
Indien duftete für mich nach Räucherstäbchen, nach Kardamom, Zimt, Safran und Vanille. Ich träumte von Sonnenuntergängen, die den Himmel in flüssiges Gold tauchten und malte mir aus, wie ich durch die verwinkelten Gassen Rajasthans schlendere.
Der Traum platzte
Als das Flugzeug zum Landeanflug auf Delhi ansetzte, platzte mein Traum vom Märchenland wie eine Seifenblase. Minutenlang flogen wir über ein Meer aus heruntergekommenen Wellblechhütten. Ich blickte hinunter auf einen Flickenteppich aus Elend und plötzlich fühlte sich meine Vorstellung von Indien vollkommen naiv an.
Im Land der Könige
Drei Wochen lang reisten wir durch Rajasthan, den zweitgrößten Bundesstaat Indiens und das sogenannte „Land der Könige“. Wir besichtigten die unzähligen Paläste der Maharadschas und ließen uns durch die staubigen Gassen uralter Karawanenstädte treiben, in denen die Zeit stehen geblieben zu sein schien.
Wir spazierten über Basare und Märkte, doch je tiefer wir in diese fremde Welt eintauchten, desto stärker wich meine romantische Vorstellung einer harten Realität. Indien war nicht nur prachtvoll und geheimnisvoll – es war auch laut, überfordernd und unbarmherzig ehrlich.
Aus Illusion wurde Realität
Die Straßen waren ein unkontrollierbarer Strom aus Menschenmassen, hupenden Tuk Tuks und Rikschas, streunenden Hunden, Garküchen, Motorrollern, Lastwagen und Fahrrädern. Müllberge türmten sich am Straßenrand, Plastikflaschen trieben in den Flüssen und mitten in diesem Chaos standen abgemagerte, heilige Kühe und wühlten im Abfall nach etwas Essbarem.
Der Duft von Kardamom und Vanille lag nicht in der Luft. Stattdessen roch es nach Abgasen, Kloake und verbranntem Müll. Und ab und zu nach Räucherstäbchen.
Wir wurden von morgens bis abends angestarrt, angebettelt, angefasst. Zerlumpte Kinder mit großen, braunen Mandelaugen und schmutzigen Händen klammerten sich an unsere Ärmel und flehten „One rupee, madam“. Straßenverkäufer zogen uns in ihre Shops. Bewusst wegschauen und einfach weitergehen brachte ich nur schwer übers Herz. Sie alle wollten etwas abhaben von den reichen, weißen Europäern, die hierher kommen, um ihre Abenteuerlust zu stillen.
Weinende Mütter hielten uns ihre in Tücher gewickelten Säuglinge vor die Gesichter und deuteten mit ihren Gesten an, dass sie Hunger leiden. Wenn wir im Auto an der Ampel standen, hämmerten sie gegen die Fensterscheiben, weinten und schrien. Überwältigt von Gefühlen der Hilflosigkeit, der Ohnmacht und der Überforderung hätte ich in solchen Momenten am liebsten mit ihnen geschrien. Stattdessen war ich gelähmt.
Reizüberflutung
In Jaipur, der Hauptstadt Rajasthans, ließ mich das Reizfeuerwerk an Sinneseindrücken schließlich kapitulieren. Im Eiltempo rannten wir durch die verstopften Straßen. Mit einer Hand umklammerte ich meinen Jutebeutel, mit der anderen drückte ich Patricks Hand. Ich reagierte gereizt, wurde wütend über jeden, der mich am Arm packte und hatte das ständige Neinsagen, Wegschauen und Abschütteln von Menschen, die mir zu nahe kamen, satt.
Was mich am meisten fertigmachte, war nicht der bestialische Gestank, nicht der Smog, den wir atmeten, nicht die Müllhalden und nicht die streunenden Straßenhunde. Es waren auch nicht die Tuk Tuks, die uns beim Versuch eine Straße zu überqueren, beinahe über die Füße fuhren, nicht die Menschen, die auf den Gehwegen in ihrem eigenen Urin lagen und es waren auch nicht die zerlumpten Kinder, die mein Herz zerbrechen ließen.
Allen voran war es der schmerzhafte Geräuschpegel, der mich bis an den Rand meiner Verzweiflung trieb. Das nie enden wollende Gehupe, das uns alle paar Sekunden zusammenzucken ließ. Lärm war in Indien allgegenwärtig, durchdringend, verstörend. Er hallte in den Ohren, drang in den Kopf, ließ keinen Raum zum Atmen.
Als meine körperliche und seelische Erschöpfung ihren Höhepunkt erreicht hatte, flüchteten wir in ein Café mit Dachterrasse. Erst als ich auf einem Stuhl zusammensackte und mir eine eiskalte Cola in den Rachen schütte, spürte ich, wie meine Anspannung nachließ.
Sichere Seifenblase
Uns gegenüber lag der Hawa Mahal, der Palast der Winde. Es ist in Wahrheit gar kein wirklicher Palast, sondern lediglich eine Fassade aus lachsfarbenem Sandstein, die der Maharadscha Sawaj Pratap Singh 1799 errichten ließ, um seinen Hofdamen die Möglichkeit zu geben, durch 953 kleine, kunstvoll verzierte Gitterfenster das Geschehen auf der Straße zu beobachten, ohne selbst dabei gesehen zu werden.
Auf meinem geschützten Sitzplatz mit Blick auf die Stadt fühlte ich mich wie die Frauen im Hawa Mahal. Lässt sich Indien etwa nur so aushalten? In einer sicheren Seifenblase auf einer Dachterrasse, die ausschließlich von Touristen besucht wird? Ohne den ohrenbetäubenden Lärm, die Menschenmassen, den Müll, den Gestank, das Chaos?
Privilegiert, wie ich in diesem Moment offensichtlich war, schämte ich mich für meine Gedanken und trotzdem, oder gerade deshalb, wollte ich nicht aufgeben. Ich wollte Indien in all seinen Facetten begreifen und ließ mich weiterhin auf das Land ein. Auch in den nächsten Tagen kämpften wir uns durch die Orte. Oft standen wir regungslos nebeneinander, beobachteten das Treiben und saugten die Eindrücke wie Schwämme auf.
Am Abend lagen wir gerädert nebeneinander im Bett und versuchten das zu verarbeiten, was wir tagsüber erlebt hatten. Darüber sprechen konnten wir kaum. Selbst zum Schreiben fehlten mir in Indien die Worte.
Aufatmen in Goa
Nach Rajasthan kam Goa, der kleinste Bundesstaat Indiens, dessen paradiesische Küste am Arabischen Meer liegt. Palmen ragten in den babyblauen Himmel, dazu weicher Sand und seichte Wellen. Unsere Haut wurde von der Sonne gewärmt und wir konnten endlich aufatmen. Vom hektischen, lauten, nervenaufreibenden Indien, das wir in den vergangenen drei Wochen erlebt hatten, war in Goa nicht mehr viel zu spüren.
Statt Bettlern, Slums, Dreck und Armut, gab es in Goa Banana Pancakes, Müsli und frisch gepresste Mangoshakes zum Frühstück. Tagsüber palmengesäumte Traumstrände und abends ein kühles Kingfisher Bier zum kitschig schönen Sonnenuntergang.
Wir ließen unsere Reiseerlebnisse Revue passieren, auch wenn die Verarbeitung der Eindrücke wahrscheinlich noch Monate dauern würde. Mit jeder Minute, die wir an Goas Stränden verbrachten, auf dem Motorroller über die Highways fuhren, uns den warmen Tropenwind durch die Haare wehen ließen und weiß getünchte Prachtgebäude aus der portugiesischen Kolonialzeit bestaunten, ließ die Anspannung nach.
Wir bewegten uns freier und sicherer. Unsere Tage in Goa waren fröhlich und unbeschwert, bis uns eine Lebensmittelvergiftung ausbremste.
Lebensmittelvergiftung
Einem romantischen Abendessen bei Kerzenschein in einem Restaurant am Strand folgten schlaflose Nächte, in denen wir schweißgebadet im Bett vegetierten und uns die Seele aus dem Leib kotzten. Die drückende Hitze, der ratternde Ventilator an der Decke und das dröhnende Hupen, das von der Straße ins Zimmer drang, sind Erinnerungen, die sich fest in mein Hirn gebrannt haben.
Der Heißluftballon, mit dem wir über den Wolken schweben wollten, hob ohne uns ab. Wir mussten die gebuchte Tour abblasen. Pläne ändern sich. Auch das lernt man beim Reisen.
Zwei Tage und zwei Nächte dauerte es, bis wir wieder einigermaßen auf die Beine kamen. Es war, als wollte Indien uns noch einmal freundlich daran erinnern, dass man nicht einfach an die Paradiesstrände des Landes flüchten und die Augen vor der Wahrheit verschließen konnte.
Mumbai
Zum krönenden Abschluss unserer Indien Reise flogen wir nach Mumbai. In die Stadt, in der für mich alles angefangen hatte. Die fremde Familie, die ich zwei Jahre zuvor auf der Straße kennengelernt hatte, erwartete uns bereits am Gate. Herzlich schlossen sie uns in die Arme, als würden wir uns schon eine halbe Ewigkeit kennen.
Das Wiedersehen war ein Fest. Als wir gemeinsam mit ihnen durch die Straßen Mumbais spazierten, fühlten wir uns wie von einem unsichtbaren Schutzmantel umgeben, der dafür sorgte, dass wir weder angestarrt noch angebettelt oder angefasst wurden. Wir gehörten plötzlich dazu.
Am Abend fuhren wir zu ihnen nach Hause, aßen gemeinsam mit den Händen aus den Töpfen und erzählten Geschichten. Seelenruhig schliefen Patrick und ich in dieser letzten Nacht eng aneinander gekuschelt im Gästebett der Familie ein und versöhnten uns ein für allemal mit Indien.
Kulturschock Indien
Wenn wir mit einer fremden Kultur zusammentreffen, die sich grundlegend von unserer eigenen unterscheidet, reagieren wir oft mit Fassungslosigkeit und Unverständnis, Frust und Unsicherheit. Kurz: Wir erleiden einen Kulturschock.
Für mich war Indien der größte Kulturschock, den ich bisher erlebt habe, denn dieses Land ist mit nichts auf unserer Welt vergleichbar. In Indien stieß ich an meine Grenzen. Ich zerbrach an dem Elend, der Armut, der Ungerechtigkeit und stellte mir Fragen, die mich bis heute beschäftigen.
Ich wurde nicht an den Rand meiner Komfortzone geführt, nein, ich wurde im Schleudersitz herauskatapultiert. Für Patrick muss es sich noch um einiges intensiver angefühlt haben. Es war seine erste Berührung mit dem asiatischen Kontinent. Seine Wahrnehmung war dementsprechend geschärft. Wie mit Kinderaugen saugte er all die Eindrücke auf, ohne dabei zu etikettieren, zu vergleichen und in Schubladen abzulegen.
Er wich nie von meiner Seite, selbst dann nicht, als ich ihn zum Shri Karni Mata, einem Rattentempel in der Provinzstadt Deshnok, schleppte. Etwa 20.000 Ratten, die in Indien als heilig verehrt werden, leben in diesem Tempel. Sie huschen über den Fußboden, schlafen auf den Gittertoren und trinken im Kollektiv an riesigen Milchgefäßen. Wir liefen mitten durchs Getümmel - barfuß, versteht sich. Die Überwindung, die es Patrick kostete, konnte ich in seinem Gesicht ablesen.
Märchen oder Albtraum?
Rückblickend können wir uns für all die Erfahrungen, die wir in Indien machen durften, glücklich schätzen, denn so sehr uns dieses Land auch überforderte, zurück blieben Bewunderung, Demut und Dankbarkeit. Schon Mark Twain bezeichnete Indien als „das Land von Traum und Romantik, von grandiosem Reichtum und grandioser Armut“. Er fasst damit perfekt zusammen, was Indien tatsächlich ist: schön und schrecklich zugleich, ein Märchen und ein Albtraum.
Oder wie Andreas Altmann so treffend schrieb: „Indien ist ein gigantischer Spiegel. Jeder darf hineinblicken und sich anschauen. Wer das Land im selben Zustand verlässt, wie er es betreten hat, kam schon als Leiche“.
Indien ist definitiv nicht das Märchen, das ich mir in meiner Vorstellung ausgemalt hatte. Trotzdem ist es ein wundersames Land, das wohl niemand, der nicht dort geboren ist, in seiner Ganzheit jemals begreifen wird.
Um auch nur einen Bruchteil der Kultur zu verstehen, braucht es Zeit, Geduld, starke Nerven und sehr viel Verständnis. Aber es braucht auch eine Dosis Neugier, Entdeckerlust und vielleicht ein bisschen Mut. Mir hat Indien dabei geholfen, mein eigenes Leben zu reflektieren. Es hat mich und meinen Blick auf die Welt verändert.
Dieser Reiseblog enthält Werbelinks. Buchst du über unsere Links, erhalten wir eine kleine Provision. Für dich entstehen dadurch keine zusätzlichen Kosten.
Michael
Hallo, sehr gut und authentisch geschriebener Artikel. Ich war 2011 auf einer zweiwöchigen Geschäftsreise in Bangalore und Jaipur unterwegs (Rückflug mit Umstieg in Mumbai) und hatte die Wochenenden (insgesamt 5 Tage) Zeit mir Bangalore! Jaipur und Umgebung sowie Argra anzuschauen. Und ich kann alles bestätigen, einschließlich der Emotionen („One Rupie please, Sir“), Familien, die auf Verkehrsinseln wohnten und das Slum direkt unter dem Fenster meines 5 Star Resort Hotels (Jaipur). Dass ich in Agra in der Nacht die kalte und rauschende Klimaanlage in Agra wegen des Gestanks von verbrennendem Müll wieder angestellt hatte. Und meine Vorbereitung mit dem Buch „Kulturschock Indien“ hat mich, ehrlich gesagt, nicht auf die Realität dort vorbereitet. Da hilft nur ein gewisser fatalismus, die Dinge so hinzunehmen, wie sie sind. Aber das macht es auch nicht wirklich besser.
Oli
Ich musste über deinen Bericht schmunzeln. Bin aktuell gerade das fünfte Mal in Indien und erstaunt, wie angenehm Indien in den letzten 20 Jahren geworden ist. Und doch ist das, was du beschreibst genau das, was ich 2002 bei meinem ersten Mal hier selber durchgemacht habe. Und da frage ich mich dann, ob es wirklich besser geworden ist oder ich einfach abgehärteter bin.
Julia
Hi Oli,
eine sehr spannende Frage, ob sich Indien verändert hat oder die eigene Wahrnehmung. Mein Text ist von 2017. Vielleicht würde ich das Erlebte heute auch wieder ganz anders wahrnehmen als damals. Schön finde ich jedoch nach wie vor, dass es überhaupt noch Länder gibt, die es schaffen, solch einen Eindruck zu hinterlassen. Ich wünsche dir eine tolle Zeit in Indien!
Liebe Grüße,
Julia
Benedikt
Hallo! Ein sehr interessanter Artikel, der die Realität Indiens ehrlich darstellt. Ich schätze die authentische Schilderung der Eindrücke vor Ort. Was für eine intensive Erfahrung zwischen glitzernden Palästen und den herausfordernden Lebensverhältnissen. Haben Sie während Ihrer Reise auch einen positiven Kontakt zu den Einheimischen gehabt, der diese wilde Kombination etwas leichter gemacht hat? Wäre spannend zu wissen, ob es bestimmte Momente gab, in denen die Magie Indiens zu spüren war. Freue mich mehr von Ihren Reisen zu lesen!
Julia
Hallo,
ja, wir haben durchaus sehr viele positive Erfahrungen in Indien gemacht und ganz wundervolle Menschen kennengelernt, zu denen wir heute (7 Jahre nach der Reise) immer noch Kontakt haben. In unserer Kategorie „Indien“ finden Sie weitere Beiträge.
Viel Spaß beim Lesen und herzliche Grüße,
Julia
Selim
Na… da bin ich mal gespannt. Ich werde nächsten Sommer ein paar Monate in Indien verbringen, aber eher in den Himalaya-Provinzen im Norden. Von dem was ich erzählt bekommen habe, ist es da nicht ganz so wild, vor allem wenn man die großen Städte meidet.
Viele Grüße
Selim