Ein Abschiedsbrief
„Es ist so schrecklich, dass ich nicht weiß, wie ich es dir sagen soll.“ Als ich die Email mit der Betreffzeile in meinem Posteingang entdecke, wird mir schlagartig kotzschlecht.
Ich klicke wie bescheuert auf die Nachricht, doch sie öffnet sich nicht. Das scheiß Internet auf dem Schiff ist zu lahm. Mein Magen dreht sich um. Am liebsten möchte ich auf meinen Schreibtisch kotzen.
Endlich öffnet sich die verdammte Email. Innerhalb von Sekunden werde ich kreidebleich. Meine Hände zittern, Tränen schießen in meine Augen. Ich will schreien!
Du bist tot.
Nein, das darf nicht wahr sein. Das geht nicht! Ich glaube kein Wort von dem, was ich da lese. Reglos starre ich auf den Bildschirm, reibe mir die Augen, lese die Email wieder und wieder. Ich klicke sie weg, stehe auf, setze mich wieder hin und rufe sie erneut auf.
Meine Kehle schnürt sich zu. Ich schnappe nach Luft, kann kaum atmen und spüre wie heiße Tränen über meine eiskalten Wangen laufen.
Mein Herz zerspringt in tausend Teile.
Fassungslos und kreidebleich lasse ich alles stehen und liegen. Ich verlasse mein Büro und bewege mich wie ein ferngesteuerter Zombie übers Schiff. Die Welt um mich herum blende ich völlig aus. Personen, die mir in den engen Gängen begegnen, nehme ich nur verschwommen wahr. Ich spüre, wie sie mich anstarren. Ihre Stimmen klingen dumpf, als wären sie in meilenweiter Ferne.
Mit einem lauten Rums lasse ich dir Tür meiner Kabine hinter mir ins Schloss fallen. Ich betrachte mein Spiegelbild, schaue in meine eigenen Augen und sehe deine. Ich blicke durch mich hindurch und heule.
Du bist tot. WARUM? Ich begreife es nicht!
Warum bist du gegangen? Du warst viel zu jung! Du hattest dein Leben noch vor dir.
Es gibt noch so viele offene Fragen, ungeklärte Gespräche, so viele Dinge, die ich dir noch sagen wollte und unausgesprochene Worte, die nun für immer verschwiegen bleiben.
Es gibt da so eine Sache, die mir ganz besonders auf dem Herzen brennt. Ich wollte sie dir schon sagen, als du das letzte Mal meine Hand gehalten hast, doch ich habe es nicht getan. Jetzt ist es zu spät.
Verdammt nochmal, noch vor sieben Wochen lagen wir uns in den Armen, redeten über vergangene Tage, über den alltäglichen Wahnsinn und tranken auf die Zukunft. Fast so wie früher.
Zwei, drei, vielleicht auch vier Stunden sitze ich auf dem kalten Fußboden meiner winzigen Kabine. Die Arme um meine Beine geschlungen, starre ich ins Leere. Ich zittere am ganzen Körper.
Du bist tot und es tut so unendlich weh!
Ich fühle mich alleine, eingeschlossen auf dem Schiff, irgendwo in Asien, mitten auf dem Meer. Ohnmacht und Hilflosigkeit machen sich breit. Was um Himmels Willen soll ich jetzt tun? Meinen Job kündigen, den Einsatz abbrechen, das Schiff verlassen und nach Hause fliegen? Immerhin findet nächste Woche deine Beerdigung statt. Will ich, soll ich, muss ich da dabei sein?
Ich hasse Friedhöfe. Ich hasse Kirchen. Ich glaube nicht an Gott und überhaupt sträubt sich jede meiner Zellen dagegen bei der Beerdigung dabei zu sein. Egal was ich tue, es macht doch eh alles keinen Sinn mehr! Was bringt es jetzt alles hinzuschmeißen und nach Deutschland zu fliegen, wo dein toter Körper in der Leichenhalle aufbewahrt wird? Deine Seele hat die menschliche Hülle längst verlassen. Du bist weg!
Aber einfach so tun, als wäre nichts und so weitermachen wie bisher? Das kann ich auch nicht. Ich habe Angst. Was erwarten die anderen von mir? Was erwartest du? Was soll ich bloß tun? Ich möchte davonlaufen, doch auch das ist keine Lösung. Das Leben geht schließlich weiter.
Tagelang zerbreche ich mir den Kopf darüber, was ich machen soll, bis dass ich eine Entscheidung treffe. Ich bleibe. Ich arbeite weiter und fliege am Ende meines Vertrages nicht nach Hause, sondern wie geplant nach Sri Lanka.
Ich rechne fest damit, dass mir meine Entscheidung zum Vorwurf gemacht wird. „Warum brichst du nicht ab und nimmst den nächsten Flieger nach Hause? Du kannst doch jetzt nicht munter weiterreisen,“ stichelt meine innere Stimme. Doch mein Herz sagt etwas anderes. Es zieht mich nach Sri Lanka, dem Land, in dem ich am ehesten einen Zugang zu dir finde und in aller Stille Abschied nehmen kann.
Ende Dezember fliege ich also nach Sri Lanka.
In der Dunkelheit der Trauer leuchten die Sterne der Erinnerung.
Am Silvesterabend stehe ich am Strand von Hikkadua, blicke auf das dunkle Meer und beobachte die feiernde Menschenmasse. Mit einem lachenden und einem weinenden Auge geht das Jahr zu Ende. Du erlebst es nicht mehr. Dabei hattest du noch so viele Pläne, Träume und Wünsche.
Erst zwei Wochen vor deinem Tod hast du deine Reise nach Indien gebucht, um dir endlich einen langersehnten Herzenswunsch zu erfüllen. Jahrelang hast du mir von deinen Träumen erzählt, die immer wieder wie Seifenblasen zerplatzten und nun endlich Wirklichkeit werden sollten.
Dein Flugticket nach Goa liegt jetzt zu Hause. „Flug gebucht“ war die letzte Nachricht, die du mir bei Facebook geschickt hast. Zehn Tage später warst du tot. „Wir treffen uns in Indien“, hast du damals gesagt. Verfluchte Scheiße! Was soll das?
Abschied nehmen
Am Tag deiner Beerdigung besteige ich den Adam’s Peak und nehme mir feste vor, dort oben auf dem heiligen Gipfel, Abschied von dir zu nehmen. Schon beim Aufstieg denke ich ununterbrochen an dich. In Deutschland stehen jetzt alle um deine Urne herum, werfen Rosen in dein Grab und liegen sich trauernd in den Armen.
Vielleicht erzählen sie sich gegenseitig Geschichten, die sie mit dir verbinden, reden über Momente, die sie mit dir erleben durften und sprechen darüber, was für ein toller Mensch du warst.
Ich bin nicht dabei. Stehe nicht auf dem Friedhof und habe keine Rose in der Hand. Stattdessen kämpfe ich mich den steilen Berg hinauf. Bei jeder Stufe, die ich mich hochquäle, habe ich das Gefühl, dass du anwesend bist.
Während des magischen Sonnenaufgangs auf dem Gipfel bin ich den Tränen nahe. Ich habe einen fetten Kloß im Hals, möchte Abschied nehmen und loslassen, doch ich kann nicht. Ich schaffe es einfach nicht.
Später, beim Abstieg, kullern mir die heißen Tränen übers Gesicht und ich beschließe, das mit dem Abschied sein zu lassen. Warum soll ich Abschied nehmen? Du bist allgegenwärtig und wirst es immer bleiben. Du bist da. Bei jedem Rauschen der Wellen, bei jedem Windstoß, bei jedem Sonnenstrahl.
Das Leben ist zu kurz, um das Glück auf später zu verschieben.
Was ich aus deinem Tod lerne? Ein ganze Menge!
Zum Beispiel wird mir mal wieder auf schmerzhafte Weise bewusst, wie endlich unser aller Leben doch ist, wie schnell alles vorbei sein kann und dass jeder Mensch auf dieser Welt, jeden einzelnen Tag so leben sollte, wie er es gerne möchte.
Dein Tod bestärkt mich darin, meinen Lebensstil genauso fortzuführen, wie ich es gerade tue. Er bestärkt mich weiterhin meinem Herzen zu folgen und nicht auf die Menschen zu hören, die mir seit Jahren einreden wollen, ich müsste einen Lebensmittelpunkt finden, sesshaft werden, ankommen und einem soliden Job nachgehen.
Wer weiß schon, wie lange ich noch zu leben habe? Wer weiß, wie oft ich noch morgens aufwache, atme, gesund bin, glücklich sein und reisen kann? Niemand! Und genau aus diesem Grund, werde ich dieses Leben weiterleben, für meine Freiheit kämpfen und jeden fucking Tag so leben, wie ich es für richtig halte.
Ich werde mir weiterhin die Welt anschauen, versuchen die Zeit mit meinen Herzmenschen noch bewusster zu genießen und ihnen jeden Tag sagen, wie sehr ich sie liebe. Ich werde mich wieder mehr an den kleinen Dingen freuen, Sonnenstrahlen und Glücksmomente sammeln.
Ich möchte mich weniger aufregen und ärgern, weniger stressen und streiten. Sterben muss ich sowieso irgendwann. Was ich bis dahin anstelle, bleibt einzig und alleine mir überlassen. Ich werde jeden Tag das Beste aus meinem Leben machen.
Du hättest es genauso gemacht!
Ende Januar lande ich in Deutschland, besuche meine Familie und wohne in dem Haus, in dem du gestorben bist. Die Trauer, der Schock, die Realität, alles bricht wie eine Flutwelle über mir zusammen. Noch immer will ich es nicht wahrhaben, versuche zu verdrängen, zu vergessen, meine Gedanken wegzuschieben und da weiterzumachen, wo du aufgehört hast.
Ich rechne damit, dass du jeden Moment in deiner dreckigen Kochjacke um die Ecke geschlichen kommst und mich anlächelst, wie du es immer getan hast. Doch du kommst nicht. Nicht heute, nicht Morgen und auch nicht irgendwann. Du kommst nie wieder!
Fotos, Briefe und ein Tshirt von dir sind alles was mir geblieben ist. Dein Geruch ist längst verflogen, die Erinnerungen bleiben für immer.
Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man nicht durch den Tod verlieren.
Erst als ich 8 Wochen nach deinem Tod auf dem Friedhof stehe, deine Mama in die Arme schließe und deinen Namen in schwarzer Schrift auf dem hölzernen Kreuz sehe, wird mir bewusst, dass du tatsächlich gegangen bist. Du hast einen Scherbenhaufen hinterlassen, mit dem wir nun leben müssen.
Am Grab möchte ich am liebsten laut schreien. Ich bin stinkwütend. Wütend auf dich, wütend auf alle anderen. Ich möchte gegen das beschissene Grab treten. Es ist unfair. Wir wollten uns in Indien treffen! Nicht hier! Nicht auf diesem kack Friedhof. Nicht so!!!!
Spuren im Sand verwehen, Spuren im Herzen bleiben.
Vier Monate sind mittlerweile verstrichen. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an dich denke. Kaum eine Nacht, in der du nicht in meinem Traum erscheinst. Oft wache ich weinend auf, manchmal aber, da wache ich auch glücklich auf, weil du da warst, weil du mich im Traum besucht hast und weil ich deine Wärme gespürt habe.
In diesen Nächten schließe ich meine Augen ganz schnell und versuche wieder einzuschlafen. Ich möchte zurück in die Traumwelt, denn nur hier kann ich dir begegnen. In meinen Träumen lebst du ewig weiter…
Ich danke dir von ganzem Herzen für all die wundervollen Momente, die ich mit dir teilen durfte. Ich danke dir für die Zeit, die wir miteinander verbracht haben, für die nächtelangen Gespräche und die vielen Erlebnisse, die ich niemals vergessen werde. Ich danke dir dafür, dass du mich zum Lachen gebracht hast, mich getröstet hast und für mich da warst.
Du hast mein Leben bereichert, mir gezeigt, was Vertrauen, Freundschaft und wahre Liebe bedeutet und auch, wie man an ihr zerbrechen kann. Ich hoffe, deine Seele ist nun dort, wo sie immer hin wollte, dort wo du Frieden und Liebe findest.
Du wirst in meinem Gedanken und Erinnerungen weiterleben.
Ich trage dich für immer in meinem Herzen!
Deine Julia